Man
hört immer wieder, im Mittelalter habe man geglaubt, daß die Erde eine Scheibe sei, und
insbesondere die Kirche habe dies gelehrt und mittels der Inquisition sogar Leute
verbrannt, die anderer Auffassung waren. Eine derartige Kirchenlehre hat es jedoch nicht
gegeben. Die kirchliche Lehrmeinung war, in Anlehnung an die Lehre des Griechen
Ptolemäus, daß die Erde das Zentrum Weltalls sei, aber daß sie eine Kugel ist, gehörte
zum ptolemäischen Weltmodell und war Allgemeinwissen. Griechische
Wissenschaftler hatten schon in der Antike nachgewiesen, daß die Erde eine Kugel ist und
auch ihren Umfang gemessen. Aristoteles schrieb ein Werk, in dem er erklärt, woran man
die Kugelgestalt der Erde erkennt. Aristoteles war nicht nur von der Kirche akzeptiert, er
galt in der Kirchenlehre des Mittelalters als grundlegende Autorität in naturkundlichen
Fragen.
Im spät-antiken Christentum des 1. bis 6. Jahrhunderts gab es
einige wenige Autoren, die eine Scheibengestalt der Erde lehrten, doch nach dem 6.
Jahrhundert wird in einer Fülle von Quellen von der Erdkugel gesprochen.
Neben den Textquellen existieren zahlreiche bildliche
Darstellungen der kugelförmigen Erde. Auch symbolische Gegenstände, wie z.B. der
Reichsapfel, zeugen vom Wissen über die Kugelgestalt der Erde.
Die irrige Vorstellung über das mittelalterliche Weltbild
lässt sich auf die Zeit der Aufklärung zurückführen. Diese Zeit war geprägt von dem
Bemühen. sich von Kirchen- und Mönchstum abzugrenzen und die den Klerus generell als
ungebildet und Wissenschaftsfeindlich abzustempeln. Das vermeintlich flache Weltbild
passte so besonders gut als Objekt der Ironie.
Die Wiederentdeckung der Weltbeschreibung des Cosmas
Indicopleustes Monachus, der eine flache, rechteckige Erde beschrieb, förderte diesen
Irrglauben, da man das Werk des Cosmas als repräsentativ ansah. In der Tat war aber
Cosmas ein eher obskurer Autor, der so gut wie keine Anhänger besaß.
Der amerikanische Historiker Jeffrey Burton Russell hat die Herkunft der
Vorstellung erforscht. Sein Ergebnis ist: Vor etwa 1830 glaubte niemand, daß die Menschen
des Mittelalters sich die Erde als Scheibe vorgestellt hätten (https://www.asa3.org/ASA/topics/history/1997Russell.html)
Das Thema der Form der Erde wird zudem noch meist mit einem
anderen Streitpunkt der Weltvorstellung vermischt - nämlich mit der Frage, ob die Welt
geozentrisch ist. Die Diskussion, die Leute wie Galilei, Kepler oder Bruno angestoßen
hatten, ging nicht darum, dass die Erde eine Kugel ist sondern dass sie sich um die Sonne
bewegt und nicht das Zentrum des Universums ist. In dieser Frage gab es in der Tat eine
starke Opposition der Kirche gegen das heliozentrische Weltbild.
Im folgenden eine Liste von Autoren aus Spätantike und
Mittelalter, deren Werke deutliche Hinweise auf die Kenntnis der Kugelgestalt der Erde
enthalten. Bemerkenswert (für die allgemeine Vorstellung) ist der große Anteil von
kirchlichen Autoren (bis hin zu Päpsten):
Ambrosius von Mailand, Basilius von Caesarea, Augustinus, Calcidius, Macrobius,
Martianus Capella, Boethius, Cassiodor, Bischof Jornandes (oder Jordanes), Isidor von
Sevilla, der Westgotenkönig Sisebut, der irische Mönch Dicuil, Bischof Virgil von
Salzburg, Beda Venerabilis, Theodulf von Orléans, Hrabanus Maurus, Remigius von Auxerre
(Rémy d'Auxerre), Erzpriester Leo aus Neapel, Notker der Deutsche von Sankt-Gallen,
Gerbert d'Aurillac (Papst Sylvester II), Hermann der Lahme, Adam von Bremen, Guillaume de
Conches, Pierre Abélard, Honorius Augustodunensis, Hildegard von Bingen, Abu-Idrisi,
Bernardus Sylvester, Petrus Comestor, Thierry de Chartres, Gautier de Châtillon,
Alexander Neckam, Alain de Lille, Ibn-Ru?d (Averroes), Mose ben Maimon (Maimonides),
Lambert de Saint-Omer, Gervaise de Tilbury, Robert Grosseteste, Johannes de Sacrobosco,
Thomas de Cantimpré, Gautier de Metz, Jean de Meung, Peire de Corbian, Vincent de
Beauvais, Brunetto Latini, Alfonso el Sabio, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Robertus
Anglicus, Juan Gil de Zámora, Perot de Garbelei, Berthold von Regensburg, Roger Bacon,
Meister Eckehardt, Ristoro d'Arezzo, Marco Polo, Dante Alighieri, Cecco d'Ascoli, Brochard
der Deutsche, Fazio degli Uberti, Jean de Mandeville, Konrad von Megenberg, Nicole Oresme,
Geoffrey Chaucer, Christine de Pizan, Pierre d'Ailly, Alfonso de la Torre, Enea Silvio
Piccolomini (Papst Pius II), William Caxton, Toscanelli, Martin Behaim, Christoph
Columbus.
Quellen:
Rudolf Simek
"Kugel oder Scheibe? - Das Bild von der Erde im Mittelalter"
Spektrum der Wissenschaft, Sonderheft Spezial 2/2002
"Forschung und Technik im Mittelalter"
https://www.wissenschaft-online.de/artikel/604748
Autor: Gunter Krebs |