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TURBA DELIRANTIUM

 

 

Carmina Burana: 
CB 191

Archipoeta: Vagantenbeichte

Die Vagantenbeichte ist eine Verteidigung des Archipoetae gegen die ihm von anderen Höflingen vorgeworfenen Lastern. Anstatt sie zu leugnen, geht der Dichter offensiv damit um und liefert uns einen Einblick in den Lebensstil eines hochmittelalterlichen Vaganten.

 

Estuans intrinsecus ira vehementi
in amaritudine loquor mee menti.
factus de materia levis elementi
folio sum similis, de quo ludunt venti.
 
Brennend im Innern vor heftigem Zorn,
will ich mit Bitterkeit zu meinem Herzen sprechen.
Aus dem Stoff des leichten Elements bin ich gemacht,
dem Blatt bin ich gleich, mit dem die Winde spielen.
 
Cum sit enim proprium viro sapienti,
supra petram ponere sedem fudamenti,
stultus ego comparor fluvio labenti,
sub eodem aere numquam permanenti.
 
Während es weisen Mannes Art ist,
auf den Fels sein Fundament zu gründen,
bin ich Tor dem Flusse, der dahintreibt, gleich,
der unterm selben Himmel niemals bleibt.
 
Feror ego veluti sine nauta navis,
ut per vias aeris vaga fertur avis;
non me tenent vincula, non me tenet clavis,
quero mei similes et adiungor pravis.
 
Ich gleite dahin wie ein Nachen ohne Steuermann,
wie auf luftigen Wegen der Vogel sich treiben läßt;
mich hält keine Fessel, mich hält kein Schlüssel,
ich suche meinesgleichen und finde mich unter den Schlechten.
 
Michi cordis gravitas res videtur gravis,
iocus est amabilis dulciorque favis.
quicquid Venus imperat, labor est suavis,
que numquam in cordibus habitat ignavis.
 
Mir scheint des Herzens würdiger Ernst gar eine schwere Sache,
das Scherzen ist mir angenehm und süßer noch als Honig.
Was Venus befiehlt, das ist ein angenehmer Dienst,
Venus, die in gemeinen Herzen niemals wohnt.
 
Via lata gradior more iuventutis,
implico me vitiis immemor virtutis,
voluptatis avidus magis quam salutis,
mortuus in anima curam gero cutis.
 
Ich schreite auf dem breiten Weg nach der Art der Jugend,
verstricke mich in Laster, uneingedenk der Tugend,
nach Lust begierig, viel mehr als nach dem Heil,
bin ich in der Seele tot und pflege meine Haut.
 
Presul discretissime, veniam te precor,
morte bona morior, dulci nece necor,
meum pectus sauciat puellarum decor,
et quas tactu nequeo, saltem corde mechor.
 
Weisester Bischof, ich bitte dich um Nachsicht,
ich sterbe einen guten Tod, mich tötet süßes Sterben,
mein Herz versehrt der jungen Mädchen Schönheit,
mit denen ich es nicht leibhaftig treiben kann, mit denen treib ich es im Herzen.
 
Res est arduissima vincere naturam,
in aspectu virginis mentem esse puram;
iuvenes non possumus legem sequi duram
leviumque corporum non habere curam.
 
Überaus schwer ist's, die Natur zu überwinden,
beim Anblick eines Mädchens reinen Sinnes zu bleiben;
wir jungen Leute können keine strengen Vorschriften einhalten
und die geschmeidigen Körper unbeachtet lassen.
 
Quis in igne positus igne non uratur?
quis Papie demorans castus habeatur,
ubi Venus digito iuvenes venatur,
oculis illaqueat, facie predatur?
 
Wer wird denn nicht gebrannt, wenn er im Feuer steht?
Wer kann als keusch bestehn, der in Pavia weilt,
wo Venus mit dem Fingerwink die jungen Burschen jagt,
mit Augen sie in Schlingen lockt, mit dem Gesicht zur Beute macht?
 
Si ponas Hippolytum hodie Papie,
non erit Hyppolytus in sequenti die.
Veneris in thalamos ducunt omnes vie,
non est in tot turribus turris Alethie.
 
Bringst du den Hippolytus heute nach Pavia,
so wird er morgen kein Hippolytus mehr sein.
Ins Schlafgemach der Venus führen alle Wege,
unter so vielen Türmen hat die Tugend keinen Turm.
 
Secundo redarguor etiam de ludo,
sed cum ludus corpore me dimittit nudo,
frigidus exterius, mentis estu sudo;
tunc versus et carmina meliora cudo.
 
Zweitens hält man mir das Spiel auch vor.
Aber wenn das Spiel mit nacktem Leib mich gehen läßt,
dampfe ich, nur außen kalt, von der Glut des Geistes,
dann schmiede ich die allerbesten Verse und Lieder.
 
Tertio capitulo memoro tabernam:
illam nullo tempore sprevi neque spernam,
donec sanctos angelos venientes cernam,
cantantes pro mortuis: "Requiem eternam."
 
Im dritten Kapitel gedenke ich der Schenke:
Die habe ich zu keiner Zeit verschmäht, noch werde ich sie je verschmähen,
bis ich die heil'gen Engel kommen sehe,
die für die Toten singen: "Ewige Ruhe".
 
Meum est propositum in taberna mori,
ut sint vina proxima morientis ori;
tunc cantabunt letius angelorum chori:
"Sit Deus propitius huic potatori."
 
Mein Vorsatz ist, zu sterben in der Schenke,
damit der Wein dem Mund des Sterbenden ganz nahe sei;
freudiger werden dann die Engelschöre singen:
"Gott sei gnädig diesem Trinker."
 
Poculis accenditur animi lucerna,
cor imbutum nectare volt ad superna.
michi sapit dulcius vinum de taberna,
quam quod aqua miscuit presulis pincerna.
 
Vom Becher wird das Licht des Geistes angezündet,
das Herz, durchtränkt vom Nektar, fliegt den Höhen zu.
Mir schmeckt süßer der Wein aus einer Schenke
als einer, den des Bischofs Schenk mit Wasser mischte.
 
Loca vitant publica quidam poetarum
et secretas eligunt sedes latebrarum,
student, instant, vigilant nec laborant parum,
et vix tandem reddere possunt opus clarum.
 
Orte, wo viel Leute sind, meiden manche Dichter,
suchen lieber abgeschiedene Behausung im Verborgenen,
mühen sich, plagen sich, wachen und arbeiten nicht wenig,
und können doch am Ende kaum ein edles Werk zustande bringen.
 
Ieiunant et abstinent poetarum chori,
vitant rixas publicas et tumultus fori,
et ut opus faciant, quod non possit mori,
moriuntur studio subditi labori.
 
Sie fasten und kasteien sich, die Scharen der Poeten,
meiden den Zank des Volks und das Gewühl des Marktes,
und um ein Werk zu schaffen, das unsterblich wäre,
sterben sie vor Mühe unterm Joch der Arbeit.
 
Unicuique proprium dat Natura munus:
ego numquam potui scribere ieiunus,
me ieiunum vincere posset puer unus.
sitim et ieiunium odi tamquam funus.
 
Einen jeden gibt Natur seine eigene Gabe:
ich für meinen Teil habe noch niemals nüchtern schreiben können,
mich kann, wenn ich nüchtern bin, ein einziger Knabe überwinden.
Durst und Hungern haß ich wie den Tod.
 
Unicuique proprium dat Natura donum:
ego versus faciens bibo vinum bonum,
et quod habent purius dolia cauponum;
vinum tale generat copiam sermonum.
 
Einem jeden gibt die Natur seine eigene Gabe:
ich für meinen Teil trinke, wenn ich dichte, guten Wein,
und was der Wirte Fässer an Reinstem nur enthalten;
solcher Wein gebiert der Worte ganze Fülle.
 
Tales versus facio, quale vinum bibo,
nichil possum facere nisi sumpto cibo;
nichil valent penitus que ieiunus scribo,
Nasonem post calices carmine preibo.
 
Verse mach ich von der Art, wie der Wein ist, den ich trinke,
gar nichts kann ich machen, ich hätte denn gegessen,
nicht das mindetse ist wert, was ich nüchtern schreibe,
nach dem Trunk kann den Ovid ich im Dichten übertreffen.
 
Michi nunquam spiritus poetrie datur,
nisi prius fuerit venter bene satur;
dum in arce cerebri Bacchus dominatur,
in me Phebus irruit et miranda fatur.
 
Mir wird nie der Geist der Poesie verliehen,
wenn der Bauch nicht vorher gut gesättigt ist;
wenn in der Burg des Hirns Bacchus die Herrschaft hat,
kommt Phoebus über mich und kündet Wunderdinge.
 
Ecce mee proditor pravitatis fui,
de qua me redarguunt servientes tui.
sed eorum nullus est accusator sui,
quamvis velint ludere seculoque frui.
 
Sieh, ich war nun der Verräter meiner eigenen Schlechtigkeit,
deren deine Diener mich verklagen.
Deren aber keiner ist ein Kläger seiner selbst,
ob auch sie gleich sich vergnügen und der Welt genießen wollen.
 
Iam nunc in presentia presulus beati
secundum dominici regulam madati
mittat in me lapidem neque parcat vati,
cuius non est animus conscius peccati.
 
Soll nun gleich in Gegenwart meines sel'gen Herrn
nach dem Maß des göttlichen Gebots
der den Stein auf mich werfen und nicht den Dichter schonen,
dessen Herz sich keiner Sünde bewußt ist.
 
Sum locutus contra me, quicquid de me novi,
et virus evomui, quod tam diu fovi.
vita vetus displicet, mores placent novi;
homo videt faciem, sed cor patet Iovi.
 
Ich habe gegen mich gesprochen, was ich von mir weiß,
und ausgespien das Gift, das ich so lange in mir trug,
mein altes Leben ist mir leid, ein neuer Wandel sagt mir zu;
der Mensch sieht des Gesicht, jedoch das Herz erschließt sich Gott.
 
Iam virtutes diligo, vitiis irascor,
renovatus animo spiritu renascor;
quasi modo genitus novo lacte pascor,
ne sit meum amplius vanitatis vas cor.
 
Schon liebe ich die Tugenden, den Lastern bin ich gram,
mit neuem Herzen werde ich im Geiste wiedergeboren,
gleich einem neugebornen Kind ernähr ich mich mit neuer Milch,
damit mein Herz nicht länger sei der Eitelkeit Gefäß.
 
Electe Colonie, parce penitenti,
fac misericordiam veniam petenti,
et da penitentiam culpam confitenti;
feram, quicquid iusseris, animo libenti.
 
Erwählter Kölns, schone des Reuigen,
schenk dein Erbarmen dem, der um Verzeihung bittet,
erleg ihm eine Buße auf, der seine Schuld bekennt;
gern will ich tragen, was immer du befiehlst.
 
Parcit enim subditis leo, rex ferarum,
et est erga subditos immemor irarum;
et vos idem facite, principes terrarum:
quod caret dulcedine, nimis est amarum.  
Es schont nämlich die Untertanen der Löwe, der König der Tiere,
und gedenkt nicht seines Zorns gegen die Untertanen;
dasselbe tut auch ihr, ihr Herrscher dieser Erde:
was der Milde ganz entbehrt, allzu bitter ist's.

 

 

Ego Gunter Krebs indignus programator scripsi hunc situm TelaeTotiusTerrae anno domini 2003 Turba Delirantium
© by Turba Delirantium und Gunter Krebs (2003), alle Rechte vorbehalten  Jegliche Veränderungen, Kürzungen, Nachdrucke (auch auszugsweise) bedürfen der Genehmigung der Verfasser.

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